Perspektiven

Im Juni Brexit, jetzt Trump, in Europa feiern die rechten Populisten ebenfalls Wahlsieg auf Wahlsieg und überall in den Medien, den „etablierten“ Parteien und auch im eigenen pluralistisch und humanistisch denkenden Freundes- und Bekanntenkreis fragt man sich „Wie kann das passieren?“

Ein bisschen erinnert mich diese Frage an genau die Fragen, die ich dereinst meinen Großeltern und anderen Verwandten im entsprechenden Alter stellte, als ich im jugendlichen Überschwang nicht verstehen konnte, wie es passieren konnte, dass ein hasserfüllter kleiner Popanz und seine hasserfüllte Clique von rassistischen Kackbratzen in Deutschland an die Macht gewählt werden konnte, obwohl diese mit ihrer Geisteshaltung ja wirklich nicht hinterm Berg hielten, und ich andererseits meine Verwandtschaft jener Generation nicht als hasserfüllte dumpfe Rassisten kannte sondern als Menschen, die sich um andere sorgten, Gewalt verabscheuten und sich in der direkten Begegnung stets empathisch und mitfühlend gegenüber jedem Menschen zeigten, egal welcher Hautfarbe oder Herkunft.

Die Antwort, die ich damals mehr oder weniger als Essenz bekam war: es habe sich „etwas ändern“ müssen, das „System“ habe sich totgefahren gehabt, alles sei entzweit gewesen, zu viele Menschen fühlten sich von „denen da oben“ im Stich gelassen, wollte denen „einen Denkzettel“ verpassen und man fühlte sich „denen da oben“ ausgeliefert, als Spielball einer „abgehobenen Elite“, verachtet und erniedrigt.

„Machtlosigkeit“ war ein weiteres Stichwort, und zwar so grundsätzlich, gegenüber „Berlin“, aber auch gegenüber „der Welt“, bis hin zu „den anderen“, und damit war der Schritt zu „allem Fremden“ auch nicht weit. Wobei dieses allerletzte Unbehagen den geringsten Teil ausmachte. Der größte Faktor war Machtlosigkeit gegenüber einer „verrückt gewordenen Welt“ und Machtlosigkeit gegenüber „denen da oben“, die ihre Machtspielchen spielten, während „alles vor die Hunde“ gegangen sei.

Und oft hörte ich auch „Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, aber damals waren die Schulen ja noch anders, wie auch die Medien, überhaupt die Informationsmöglichkeiten, grade auf dem Land, wo man nur wusste, in Berlin, da ist Krieg auf den Straßen, und überhaupt, man wusste doch gar nicht, es gab ja nur Propaganda, keine neutralen Fakten und Analysen, nichts – wir hatten einfach Angst, dass es immer nur schlimmer wird. Menschen hungerten und verarmten und die da oben taten nichts dagegen und jeder, der noch nicht in die Armut gerutscht war fragte sich, wann er zum Betteln gehen müsse.“.

Ja, der Antisemitismus und der Rassismus war damals in einem Maße „normal“ und überall etabliert, wie man es sich heute nicht mehr vorstellen kann. Aber, zumindest was meine damalige persönliche „Forschung“ mir sagte: gerade diese Normalität sorgte dafür, dass dieser heute so deutliche Faktor damals gar nicht das Gewicht hatte, das man aus heutiger Sicht vermuten würde.

Klar gab es überzeugte Rassisten, die Hitler tatsächlich wegen seines Rassismus wählten. Aber den meisten Leuten war dieser Punkt eher einfach egal. Nicht weil sie ihn toll fanden, sondern weil es eine ganz „normale“, allgemein verbreitete Geisteshaltung war, über die man überhaupt nicht groß nachdachte.

Die wählten Hitler nicht wegen seines Antisemitismus und seines Rassismus. Diese Programmpunkte waren für einen Großteil seiner Wählerschaft völlig irrelevant. So wie Trumps Rassismus und Frauenfeindlichkeit offenbar für viele Latinos und vor allem für viele Frauen offenbar uninteressanter waren als alle – auch ich – dachten. Die Leute haben damals nicht „gegen die Juden“ gewählt. Sondern „für sich“. Und sie haben auch heute nicht „den Rassisten“ gewählt. Sondern „für sich und ihre Interessen“. Die Frage nach Rasse und Frauenrechten war da eher weniger dabei, im Positiven wie im Negativen. Wenn Rassismus „normal“ ist, dann wählt man ihn nicht. Aber dann stört er einen halt auch nicht.

Wie gesagt, ich rede hier ausschließlich von dem 2 1/2 jährigen Zeitraum September 30 – März 33, in dem 4 Reichstagswahlen stattfanden und in deren Verlauf eine NSDAP von Wahl zu Wahl sich von 18% bis auf 44% steigern konnte, während sie 2 Jahre vorher noch grade einmal auf knappen 3% stand.

Danach gab es keine weitere Wahl mehr und danach wurde eh alles anders. Mir geht es um die Frage, wie, solange es noch möglich war zu wählen, diese Wahlergebnisse passieren konnten. Was danach kam war dann beispiellos. Im Sinne des Wortes. „Wir konnten es nicht ahnen“ war ein oft gehörter Satz, und faktisch stimmt er für damals in dem Maß, wie er heute nicht mehr gelten gelassen werden kann, denn inzwischen wissen wir, was passiert, wenn man solchen Leuten Macht zugesteht, weshalb das ja dann auch über einige Jahrzehnte lang gesellschaftlicher Konsens war, dass man das nicht mehr zulassen dürfe.

Zeitsprung 2016.

Ausgerechnet (auch) in England, Frankreich und den USA (Russland lasse ich mal außen vor, da spielen noch ein paar andere Faktoren mit, obwohl auch dort einige Parallelen erkennbar sind), den Ländern, die damals „die Nazis“ mit hohem Blutzoll bekämpft und besiegt haben, Länder, in denen ziemlich jede Familie Familienmitglieder hatten und teils noch haben, die Grauen erlebt und grausame Dinge getan haben, große Opfer brachten und zu abertausenden gestorben sind, um die Welt von den Nazis zu befreien, werden Menschen, Programme und Parteien an die Macht gewählt, die in vielerlei Hinsicht dem entsprechen, das diesen Ländern und deren Einwohnern dereinst unsägliches Leid verursacht hat.

Und allenthalben stehen andere – mich eingeschlossen – da und fragen sich, wie das passieren kann, und was man tun kann, um diese Entwicklung aufzuhalten.

Es werden eine Menge Ursachen genannt und Vorwürfe erhoben. Mangelnde Bildung. Abgehobene Eliten. Machtlosigkeit. Erniedrigung. Das Gefühl, verachtet zu werden. Armutsängste. Überhaupt: Ängste. Sehr existenzielle Ängste. Und zynischerweise bei vielen, denen es (noch) gut geht auch die Angst, irgendwann so behandelt zu werden, wie man selber die behandelt, denen es nicht (mehr) gut geht. Wenn ich diese Situation mit dem vergleiche, was mir meine Großelterngeneration erzählte, wird es gruselig.

Zeitsprung 1970 – 2000.

„Die da oben machen doch eh was sie wollen“ ist dabei ja etwas, das ich schon als Kind hörte, aber das war solange zwar ein Ärgernis, aber noch lange kein Grund, rechtsradikal zu wählen, solange man trotzdem keine Angst haben musste. Es gab ein funktionierendes soziales Netz.

Ich kann mich sogar erinnern, dass in den 80gern und frühen 90gern Kampagnen gefahren wurden, die den Menschen versicherten „Unsere Sozialsysteme sind keine Almosen sondern Bürgerrechte, wir sind Dienstleistung, ihr seid nicht Bittsteller, sondern es ist euer gutes Recht und legitimer Anspruch als Bürger, dass der Staat und die Gesellschaft als Solidargemeinschaft darauf achtet, Menschen, die aus welchen Gründen auch immer in existentielle Bedrängnis geraten, geholfen wird.“ – dass sich viele Menschen schämten, „auf Amt“ gehen zu müssen wurde als Problem formuliert. Im Gemeinschaftkundeunterricht war das Dauerthema: „Soziale Marktwirtschaft“, mit großgeschriebenem „Sozial“. So müsse es sein, das ist wichtig, das habe man aus der Geschichte gelernt und umgesetzt.

In den Arbeits- und Sozialämtern hingen bis zur Jahrtausendwende Plakate, die mir versicherten, dass es keinen Grund gebe, mich zu schämen, und dass man sich als Dienstleister für den Bürger verstehe, der einen Anspruch und ein Recht auf diesen Dienst habe, dass man sich als „mein Angestellter“ verstehe, dass man in meinem „Dienst stehe“. Ich habe diese Plakate selbst gesehen, und ich würde mich nicht so genau daran erinnern, wenn sie mich damals nicht so beeindruckt hätten. Und ja, auch bestärkt und ermutigt, denn ja, auch ich schämte mich damals ein wenig, als auch ich einmal in so ein Amt gehen musste, um mir Beistand zu holen.

Dass das heute kaum mehr vorstellbar ist, in Zeiten von Hartz IV und dem Bild des „Sozialschmarotzers“ und der Einstellung, dass Menschen, die Hilfe brauchen, selber an ihrer Situation schuld seien, zu faul, zu dumm, letztlich zu wertlos seien, eine Last für die Klugen, Fleißigen, Erfolgreichen, die es doch auch aus eigener Kraft schafften, ist eine Entwicklung, die in mehrerer Hinsicht beängstigend ist.

Dass diese Entwicklung ausgerechnet von den angeblich „sozialen“ Sozialdemokraten und den angeblich „progressiven“ Grünen manifestiert wurde ist da nur noch das Sahnehäubchen, das mir das Gefühl bestätigte, dass „die Politik“ den „normalen Bürger“ und das Ideal einer solidarischen, pluralistischen und sich gegenseitig stützenden Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts dann komplett abgeschrieben hat. Von einer CDU und FDP hätte man sowas ja noch erwartet. Dass aber ausgerechnet SPD und Grüne genau das durchziehen, was man von Schwarz-Gelb befürchtete – ja, ich habe damals auch Rot-Grün gewählt, weil ich eine sozialere Politik wollte als die, die sich Ende der Neunziger seitens Schwarz-Gelb abzeichnete – hat mich damals wirklich eine Weile resignieren lassen. Und mein absolutes Misstrauen gegenüber Politik und Politikern allgemein liegt in dieser Zeit begründet und ist bis heute nicht geringer geworden.

Zeitsprung zurück in die Dreißiger.

„Warum habt ihr ihn denn dann gewählt, wenn nicht wegen des Rassismus‘?“ – „Es musste was passieren, es konnte so nicht weitergehen, die NSDAP hatte eine Vision für das Land, sie versprach Wertschätzung und Selbstvertrauen, sie sagte uns, dass wir etwas wert seien, dass sie Dinge für uns besser machen würde und nicht nur an sich selber und die Pfründe der Eliten, denen es gut ging, während die anderen verhungerten, interessiert sei. Sie versprachen uns Selbstwert, Arbeit und zu Essen, die anderen sprachen nur entweder von Weltrevolution (die uns nicht interessierte) oder davon, dass man der Wirtschaft helfen müsse, was aber für uns nur hieß: den Reichen“

Zeitsprung in die Gegenwart.

„Die da oben machen doch eh was sie wollen“. Kombiniert mit ganz realen Existenzängsten. Kombiniert mit dem ebenso realistischen Gefühl, als wert- und würdelos angesehen und auch genau so behandelt zu werden, sobald es die kleinste existentielle Schwierigkeit gibt.

Angst essen Seele auf. Und ohne Seele keine Empathie, kein Mitgefühl, keine Liebe. Wenn alle das Gefühl haben, Ertrinkende zu sein oder Angst davor haben müssen, auch einer zu werden, weil es keine Sicherheiten mehr gibt, versucht niemand mehr, den anderen zu retten. Man drückt den anderen unter Wasser. Man tritt nach unten. Besser der andere als ich.

Und das Gewissen wird betäubt, indem man den anderen verachtet, als wertlos erachtet, oder gar hasst. Ihm die Schuld gibt, und nicht dem Wasser oder denen, die dafür gesorgt haben, dass der Grund so tief abgesenkt wurde, dass keiner mehr stehen kann. OK, letzteres stimmt nicht ganz. Es ist eher so, dass man denen, die den Grund absenkten, glaubt, wenn sie behaupten, dass nicht sie sondern die anderen, die um einen herum um ihr Leben schwimmen, für den gestiegenen Wasserpegel verantwortlich seien. Was dem Gewissen wiederum hilft, sich an ihnen hochzuziehen und sie dabei weiter unter Wasser zu drücken.

Dafür oder Dagegen?

Die Leute wählen nicht „gegen den frauenverachtenden Rassisten“. Und viele auch nicht „für den Rassisten“. Sie wählen immer „für sich“. Den weißen Frauen war die Frauenverachtung eines Trump egal, denn sie sind nicht die, die diese zu spüren bekommen. Der Landbevölkerung ist der ganze Rest der Welt egal. Sie bekommen andere Dinge zu spüren, haben völlig andere Ängste, und diese Dinge bestimmten ihre Wahl.

Und die fast 50% Nichtwähler? Die gehen nicht zur Wahl, um einen Rassisten zu verhindern oder eine Frau ins Amt zu wählen. Das ist für zu wenige Menschen ein ausreichend sie persönlich betreffender Grund für eine Wahl. Und offenbar haben sie keine weiteren Gründe sehen können als nur diese. In der Türkei wurde keine (ansonsten haltlos verstrittene) Opposition gewählt, deren einziger kommunizierter Programmpunkt war, eine AKP-Mehrheit zu verhindern. Dito in Ungarn.

„Gegen“ ist kein Argument, das Mehrheiten erzielt. Um von ein paar Protestprozenten auf Mehrheiten zu drehen braucht es etwas, „für“ das gestimmt werden kann. Und dabei ist es sogar egal, ob dieses „für“ ein „realistisches“ Ziel ist, oder ob dieses „für“ überhaupt irgendwas konkretes ist – der Brexit beweist, dass es reicht, ein rein „gefühltes“ Ziel zu versprechen. Die Brexiter haben für „die Souveränität unseres Landes“ gestimmt, für „Selbstbestimmung“. Klar, dieses „für“ wurde auch mit „gegen“-Argumentationen formuliert: gegen (gefühlte) „Fremdbestimmung“.

Die Brexit-Kampagne griff das Gefühl der Ohnmacht und Machtlosigkeit auf und versprach, mit der Stimme für den Brexit diesen Zustand zu beenden. Also „für“ einen anderen, besseren, selbstbestimmteren Zustand stimmen zu können.

Die Remainers haben den Fehler gemacht, nur „gegen den Brexit“ zu argumentieren, nicht „für“ ein solidarisches Europa. Das Ziel der Remainkampagne war: „verhindert einen Brexit“. Das Ziel der Demokraten in den USA war: „verhindert einen frauenverachtenden Rassisten im Amt“. Das Ziel der türkischen Opposition war „Verhindert einen Erdoghan“.

Wie wären all diese letzten Wahlen wohl ausgegangen, hätten auch die US-Demokraten, die Remainers in England, die „etablierten“ Parteien in Deutschland den Menschen neben dem Ziel, etwas zu verhindern (Trump, Brexit, die AfD) auch etwas geboten „für“ das sie hätten stimmen können? Denn schon längere Zeit ist es so, dass nicht mehr die, die wählen gehen, den Ausgang von Wahlen bestimmen. Sondern die, die nicht (mehr) hingehen. Clinton hätte die Wahl gewonnen, wenn von denen, die sonst Demokraten gewählt hatten, nicht so viele zuhause geblieben wären.

Die anderen, die Trumps, Brexiters, Rechtsradikalen, deren Stimmanteil entspricht ziemlich genau dem Potential derer, die „für“ diese Leute oder Dinge sind. Das sind im Fall Trump knapp 25% der US-Amerikanischen Wählerschaft. Das ist keine Mehrheit. Die Brexiter haben ebenfalls so gut wie alle an die Urnen bekommen, die „für“ ihre Ziele stimmen, und das waren 37% der Wahlberechtigten. Diese Zahlen sind also das Potential „für“ die Ziele von Trump, Brexitern etc..

Dass die theoretisch vorhandene Mehrheit derzeit nicht „Gegen“ abstimmt, die „Für“-Menge aber dennoch eine Mehrheit in den Auszählungen erzielt, sagt mir:

Menschen gehen zur Wahl, um „für“ etwas zu stimmen. Wenn es als Alternative für ein „für“ nur ein „gegen“ gibt und kein anderes „für“, dann gehen zwar die zur Wahl, die etwas sehen, „für“ das sie stimmen können, es gehen vielleicht auch einige zur Wahl, um „dagegen“ zu stimmen oder die eine Stimme quasi aus einer Motivation der „Tradition“ heraus abgeben, aber die, die zeigen würden, dass die „Für“-Stimmen keine Mehrheit sind, bleiben zuhause. Und so siegen die, die den Menschen etwas geboten haben, „für“ das sie stimmen können.

Wer Menschen motivieren will für sich zu stimmen muss ihnen etwas bieten, „wofür“ sie stimmen können. Etwas, das sie betrifft. Etwas, das sie wollen.

Ich sehe derzeit in der Politik deshalb einen eklatanten Denkfehler und habe tatsächlich Angst, dass bis zur Bundestagswahl 2017 genau dieser Punkt übersehen wird und deshalb auch hierzulande ein Wahlergebnis rauskommt, das einen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen lassen wird.

Denn ich sehe derzeit hauptsächlich zwei Reaktionen der etablierten Parteienlandschaft auf die Bedrohung von Rechts:

Entweder wird versucht, auf das rechte Wählerpotential zuzugehen und ihnen zu sagen „Ihr müsst keine AfD wählen, seht ihr, wir sind genauso Ausländerfeindlich, homophob, nationalistisch und antipluralistisch wie die, ihr könnt also auch uns wählen“ – sich also auf die berühmten 20% latent rechtsradikales Wählerpotential stürzen, dabei aber verkennen, „wofür“ diese eigentlich stimmen, nämlich nicht „gegen“ Ausländer, Moslems, wasweißich, sondern „dafür“, sich wertgeschätzter und damit jenen überlegen fühlen zu dürfen, sie stimmen nicht „gegen“ gleiche Rechte für alle sondern „für“ mehr Rechte für sich selbst gegenüber anderen und viele stimmen auch „für“ einen Wechsel der Verhältnisse – letztlich egal, in welche Richtung, denn von den ausländerfeindlichen, homophoben, rassistischen Programmpunkten solcher Parteien sind sie als Weiße, Heteros, „Deutsche“ ja schlicht nicht betroffen.

Insoweit ist der Namensanteil „Alternative“ in AfD tatsächlich klug gewählt, weil es diesem Wählerpotential sagt: hier könnt ihr „für“ eine Alternative zum Status Quo stimmen. Wie gesagt: es ist fast völlig egal, wie diese aussieht. Die Brexiter stimmten ja auch für eine ominöse „Souveränität“, denn es kam da nicht drauf an, wie die überhaupt aussehen soll, nicht einmal, ob die Behauptung, keine Souveränität zu haben, überhaupt „stimmt“. Denn diese Behauptung dockte an ihr Gefühl von Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit an und war deshalb „gefühlt“ wahr.

Je größer und unkonkreter, desto besser, denn da kann sich das „Gefühl“, mit all seinen Ängsten, seiner Wut, seinem Frust und seiner Ohnmacht aussuchen, auf was es reagieren will. Es wird einen Punkt finden, um andocken zu können, denn die Begrifflichkeiten sind bewusst offen genug gewählt, um jedwede Assoziation zu bedienen. Und sie bieten ein „Dafür“ zur Motivation. „Endlich tut mal wer was für mich!“ hört man da oft. Egal obs wirklich stimmt oder nicht.

Wenn jetzt Parteien oder einzelne Protagonisten von Parteien (und die finden sich ja sogar bei den Grünen und Linken) mit ebenso markigen Sprüchen versuchen, die Ausländerfeindlichkeit, den Neid nach unten, den Rassismus und die Intoleranz einer Wählergruppe anzusprechen übersehen sie, dass DAS nicht die Motivation ist, weswegen dieses Wählerpotential tatsächlich zur Wahlurne geht.

Der einzige breitere Effekt, der damit erreicht wird: Menschenfeindlichkeit wird „normalisiert“. Und was es bedeutet, wenn Rassismus und Menschenfeindlichkeit in einer Gesellschaft als etwas akzeptiertes angesehen wird, habe ich oben ja schon beschrieben: es wird für die Wahl egal. Man wählt, wie „damals“, die Veränderung der Verhältnisse, die einem nicht gefallen, indem man für die stimmt, die einem eine Änderung versprechen. Und wenn dies nur Rassisten sind, dann wählt man halt die Rassisten, denn ein Rassismus, der als „normal“ und akzeptiert empfunden wird und einen selbst ja eh nicht betrifft, weil man weiße Hautfarbe und einen deutschen Pass hat, ist ja kein Grund (mehr), sie nicht zu wählen. Sind ja nicht nur die NPD oder die AfD, die die entsprechenden Vorurteile und Ressentiments bedienen. Machen ja inzwischen alle Parteien so.

Und sie übersehen, dass dieses Wählerpotential derzeit nur deshalb Mehrheiten erzielt, weil sie der tatsächlichen Mehrheit der Wählerschaft zu einem viel zu großen Teil nichts zum Wählen anbieten und schlicht und einfach völlig ignorieren. „Wählt uns, um die AfD zu verhindern!“, das ist die zweite „Strategie“, die ich derzeit sehe, das einzige „Angebot“, das dem Wählerpotential, das nicht schon von rechten Parteien bedient wird, gemacht wird?. Ich soll also meine Stimme nicht „für“ etwas abgeben sondern „gegen“ etwas? Wie gesagt und wie sich nun schon mehrfach zeigte (ich frage mich, wofür all die schlauen und teuren Daten-Analysten bezahlt werden): Nein, damit wird dieses Potential, das weit größer ist als das, dem grade alle nachrennen, nicht aktiviert!

Das einzige „Für“ das ich derzeit sehe, dafür stimmen zu können, sofern ich nicht rechtsradikal wählen will, ist, dass doch bitte alles so bleiben solle wie es ist. Wähler, die eben damit wie es ist nicht mehr zufrieden sind, aber keine menschenverachtenden Arschlöcher wählen wollen, also Wähler wie z.B. mich, lässt man damit komplett liegen. Solange „alles noch irgendwie gut“ ist, war das eine eine richtige Strategie, die Kohl damals länger an der Macht erhielt als es IMO dem Land gut tat. Denn dann gibt es tatsächlich viele, die genau „dafür“ ihre Stimme abgeben.

Wenn aber die Grundstimmung eine ist, die sagt „Es muss sich etwas ändern“, dann gehen die, denen eine Veränderung in die Richtung, die ihnen vorschwebt (egal, ob „nur“ Gefühlt oder mit Evidenz unterfüttert), versprochen wird, zur Wahl. Und die, denen nichts angeboten wird außer ein „dagegen“, nicht. Man kann an den Wahlergebnissen zur Zeit sehr gut sehen, wem etwas angeboten wird – und was – und wem nicht.

Mir jedenfalls genügt der Status Quo nicht.

Der Status Quo ist nichts „wofür“ ich zur Wahl gehe. Und ich bin es Leid, nur noch zur Wahl zu gehen, um „gegen“ etwas zu stimmen, das noch schlimmer und menschenverachtender als der derzeitige Status Quo wäre.

Und deshalb schreibe ich diesen langen Artikel.

Er richtet sich an die Parteien, die sich als Demokraten, als pluralistisch und weltoffen und als interessiert an einem Zusammenleben in echter sozialer Sicherheit und gleichen Rechten für alle Menschen verstehen.

Und zwar nicht nur als Worthülse sondern mit ganz konkreten Plänen. Die zeigen, dass endlich wieder soziale Sicherheit und angstfreie Zukunft für alle ganz oben auf der Liste der Aufgaben und des Selbstverständnisses eines Gemeinwesens steht.

Die für ein Land stehen, in dem sich alle Menschen, die darin leben, gleich wertgeschätzt fühlen dürfen.

Für eine Wertegemeinschaft, die Humanismus, die Suche nach Konsensen und nach dem Gemeinsamen fördert, weil es sich daran ausrichtet, dass wir alle Menschen sind, die leben, lieben und lachen wollen, egal, ob sie unterschiedliche Hautfarben, Herkünfte, sexuelle Präferenzen oder Glauben haben.

Die in Europa eine Chance auf Frieden und Solidarität sehen und Unterschiede nicht als Grund für Ablehnung und Abgrenzungen fürchten sondern als Grund für Neugier und Austausch feiern.

Bemüht euch um MICH!

Zeigt mir, dass ihr FÜR etwas steht, das ICH möchte und für das ich meine Stimme geben will! Die anderen haben doch eh schon etwas, denen braucht ihr nicht mehr hinterher zu rennen, die sind versorgt. Die Hand voll, die ihr da vielleicht wirklich noch umstimmen könnt machen den Kohl nicht fett. ICH bin es, der noch nichts zum Zustimmen hat. Und wenn ihr den anderen nachrennt und nach dem Maul redet, dann sehe ich keinen Grund, warum ich für euch stimmen sollte, denn warum sollte ich das, ich würde ja auch nie für das stimmen, für das jene Leute stimmen, denen ihr da nachrennt!

Wenn ihr also nicht wollt, dass 2017 wieder eine Minderheit den Wahlausgang bestimmt:

Gebt mir etwas WOFÜR ich stimmen kann! Und tut es konkret und verbindlich. So, dass ich euch das auch glauben kann!

…denn das ist das nächste Problem: wer „sozial“ verspricht und dann alles, was „sozial“ war und ist in den Schredder wirft muss sich schon sehr sehr anstrengen, wenn man ihm irgendwann einmal wieder glauben soll! Ja, ich meine dich, SPD, die zur letzten Wahl was von „sozialer Gerechtigkeit“ faselte, aber gleichzeitig weiterhin die Agenda 2010 als ihren größten Erfolg verkaufen wollte und deren Protagonisten nach wie vor den Kurs bestimmen lassen!

 


36 Gedanken zu „Perspektiven

  1. So stimmt das nicht. Sagte jedenfalls meine Grossmutter. Man war antisemitisch, xenophob, und von Herrenmenschendünkel erfüllt. Eine mindestens 60% ausmachende Mehrheit. Die Frage kann nur sein: Sind es heute vergleichbar viele? Ich weiss es nicht.

    1. Ich sagte nirgends, dass man das nicht gewesen sei und auch nicht, dass die Menschen,mit denen ich sprach, das behauptet hätten. Im Gegenteil, ich sagte explizit, dass man das alles war, deutlich, offen und ohne irgendeinen Gedanken daran zu verschwenden, und zwar IMO deutlich über diese 60% hinaus, und mir ebendas auch gesagt/bestätigt wurde.

      Meine Behauptung (die ich nur mit meinen damaligen Gesprächen von vor 30 Jahren „belegen“ kann) ist aber die, dass dieser Herrenmenschendünkel nicht die vordergründige Motivation war, die NSDAP am Ende mit deutlich über 40% an die Macht zu wählen. Wozu auch, antisemitisch und xenophob waren alle anderen auch – die NSDAP dümpelte dennoch lange Zeit bei 3-5%. Was sie nicht hätte dürfen, wenn Antisemitismus und Rassismus grundsätzlich eine vorherrschende Motivation gewesen wäre, sie zu wählen.

    2. Sebst wenn das stimmt, schwächt es nicht die Argumentationskette des Textes. Ich wünsche mir so sehnlich eine Partei die Dich und mich vertritt, dass ich demnächst wohl meine eigene Partei brauche denn ich finde meine Alternative nicht 🙁

    3. Ganz bestimmt war man das. Das war man aber schon seit hunderten von Jahren. Jahrhunderte in denen es dennoch für die Juden langsam langsam besser wurde.
      Man hat nur Hitler nicht aus diesem Grund gewählt und hat wohl auch nicht erwartet, dass aus diesem Rassismus gleich millionenfacher Mord wird.
      Danke für diesen Artikel.

  2. Klar, der Status quo genügt nicht. Genügt er nie. Genau das ist aber das Problem. Denn in dem Moment, wo sich etwas zum Besseren ändert, ist genau das der neue Status Quo. Und vier Jahre später ist der dann auch schon wieder fürchterlich und nicht zu tolerieren. Weil man sich nun mal leicht an die Annehmlichkeiten gewöhnt und gerne vergisst, dass früher keineswegs alles besser war.

    Der Gini-Index, der die Ungleichverteilung beschreibt, ist in Deutschland von 2006 bis 2011 von 32.8 auf 30.1 gesunken. Der Einkommensanteil der ärmsten 10% ist im gleichen Zeitraum von 2,5% auf 3,4% gestiegen, der der untersten 20% von 7,4% auf 8.4%.

    Ist alles rosig? Natürlich nicht. Aber „I want it all, I want it all, and I want it now!“ bringt uns nicht wirklich weiter. Populismus von links, der das Blaue vom Himmel herunter verspricht, ist genauso schädlich. Denn nicht eingehaltene Versprechungen sorgen dann letztendlich nur dafür, dass sich der Bürger gänzlich von der Politik verarscht vorkommt.

    Mehr noch, die Eurobarometer-Umfrage hat recht deutlich gezeigt, dass es den Menschen gar nicht um einen problematischen Status Quo geht – den empfinden die meisten als akzeptabel – sondern um diffuse Ängste vor der Zukunft.
    http://www.spiegel.de/wirtschaft/eu-die-truegerische-private-zufriedenheit-der-eu-buerger-a-1106448.html

    Es sind ja GERADE die Populisten, die Unzufriedenheit mit dem Status Quo schüren – und dabei ist die wirtschaftliche Situation gar nicht mal das Hauptproblem.

    Und nein, die NSDAP hat nicht über ihren Antisemitismus (allein) die Stimmen gewonnen, zumal dieser zumindest rhetorisch zu Wahlzeiten heruntergefahren wurde, wohl aber über nackten Populismus. Sie hat allen alles versprochen. Den Bauern hat sie versprochen, Deutschland vom Weltmarkt abzukoppeln, den Industriellen gegenüber hat sie genau das abgestritten. Genauso wie Hitler Großindustriellen zusicherte, dass er Klassenkämpfe ablehnte, gleichzeitig wiederum die Arbeiterschicht kräftig auch bei Streiks unterstützte. Die NSDAP war alles für alle, und weil sie jeder daher als nützlich empfand machte sich keiner mal die Mühe, die unterschiedlichen Versprechungen gegeneinander abzugleichen.
    Im Übrigen ist aber auch Dein Vergleich der Wahlergebnisse verquer. Ja, die NSDAP dümpelte bei 3-6%. Vor der Weltwirtschaftskrise. Da war das Bedürfnis nach Sündenböcken auch noch nicht so groß. Im Übrigen verlor die NSDAP von Juli bis November 1932 Stimmen. Der Hinweis auf die Wahlen 1933 ist schon verwegen. Zu dem Zeitpunkt befanden sich bereits etliche Funktionäre der KPD und SPD in „Schutzhaft“. Wenn wir jetzt das Ergebnis von unfreien Wahlen als Maßstab heranziehen, dann kann man sich natürlich trefflich Geschichten zusammen denken.

    1. Ähm – „um diffuse Ängste vor der Zukunft“ – ja, ebendas schrob ich. Wobei diese Ängste, natürlich, mit dem Status Quo verknüpft sind, denn ebenjener ist ja die Grundlage dafür, dass ich Angst vor der Zukunft habe.

      Und mir wird ja auch stets gesagt, dass ich das auch muss, denn wenn ich heute nicht vorsorge, dann Altersarmut usw. – aber ich hab nix zum Vorsorgen, weil seit 10-15 Jahren keine realen Einkommensteigerungen, wovon soll ich was abzwacken, etc. pp.. Wenn mir gesagt wird „Wennn Du jetzt nichts änderst, dann gehts dir in der Zukunft schlecht!“ aber ich jetzt nichts ändern kann, dann muss jetzt woanders etwas geändert werden.

      Ähnliches ja auch auf anderen Gebieten: Klimawandel z.B. – ich mein: WTF denken die sich? Weitermachen wie bisher solange es irgendwie geht, nach mir die Sintflut – aber wirklich literaly?

      Und ja, ich behaupte eine Wechsel-„Stimmung“. Inwieweit die tatsächlich auf „realistischen“ oder auch „irrealen“ Ängsten, Befürchtungen, Wünschen, Ärgernissen, whatever fußt ist völlig irrelevant. Relevant ist, ob sie existiert oder nicht, denn das bestimmt, wie Wahlen ausgehen und wer es erkennt und „richtig“ darauf reagiert gewinnt Wahlen und wer „falsch“ darauf reagiert verliert sie. Quod erat demonstrandum.

      Ich weiß, dass viele Ängste, speziell diejenigen, die die Rechtspopulisten bedienen, keine rationale Grundlage haben. Dennoch existieren sie und sind wirkmächtig. Das selbe gilt für alles andere, das menschen zum Schluss bringt, dass ein „Einfach mal so weitermachen“ keine Perspektive für die Zukunft beinhaltet. Da mögen auch einige rein „gefüjlte“ Dinge dabei sein, aber eben auch sehr konkrete und nachrechenbare. Aber es ist letztlich egal, solange am Ende eben ein Wunsch nach Veränderung und nicht ein Wunsch nach „bitte, es soll alles bleiben wie es ist“ steht.

      Zum Geschichtsausflug: die relevanten Zahlen sind IMO weniger die am Ende dieser 2 1/2 Jahre sondern die am Beginn. Ein Sprunf von 3% auf 18 und dann rasant wieter nach oben (der kleine Ditch, bei 2 Wahlen in 1 Jahr, macht da keinen Stimmungsumschwung, der Stimmungsumschwung fand IMO eben ganz am Anfang statt, der weitere Verlauf dann zeigt „nur“, dass er leider nicht mehr umkehrbar war). Klar kann man da jetzt ins Detail gehen, schauen, was in Berlin und auf den Straßen der Großstädte und was sonst noch so „relevant“ erschien, dass es in die Geschichtsbücher Eingang fand.

      Um diese Perspektive ging es mir aber nicht. Es ging mir um die von „normalen Leuten“. Außerhalb der Großstadt. Ich gab da wieder, was die mir erzählten. Deren Perspektive. Das ist in etwa der Unterschied zwischen dem, was heute ein Politologe mir über Berlin erzählt und meine Nachbarin, die einen Bauernhof betreibt. Und deren Familie und Freunde. Und meine anderen Nachbarn, der Handwerker, die Arbeitslose und der Rentner. In dem 1500-Seelen-Dorf in dem ich wohne. Denn DAS sind die Wähler, die am Ende Wahlen entscheiden dadurch, ob sie überhaupt hingehen oder nicht. Und über deren Motivation, zur Wahl zu gehen oder nicht, schrob ich.

      Menschen, die politisch aktiver und differenziert, engagiert etc. pp. sind, die gehen ja sowieso, das sind die, die (wie ich) „Trotzdem“ zur Wahl gehen und auch mal zähneknirschend für den Status Quo stimmen, weil die einzige Alternative dazu ein „Schlimmer als das“ ist. Aber Menschen wie ich können das Schlimmere in Zeiten einer Wechselstimmung, in denen die Wahl dennoch nur zwischen „Noch Schlimmer“ und „Bleibt wie es ist“ stattfindet, nicht (mehr) verhindern. Was meine These ist.

      Und nur weil Populisten Ängste „gegen“ den Status Quo schüren, heißt es nicht, dass der im Umkehrschluss eigentlich ganz OK sein muss. Im Gegenteil: Populisten tun und taten das schon immer. Aber solange der Status Quo erträglich ist, nutzt ihnen das nichts, in der Masse.

      Wenn ich den Status Quo OK fände _hätte_ ich ja was „wofür“ ich wählen könnte, denn dann würde ich „für“ die Erhaltung des Status Quo abstimmen. Und genau das passiert(e) ja stets auch. „Keine Experimente“ und so, das war ja, solange die Leute grundsätzlich zufrieden waren, tatsächlich ein Grund, zur Wahl zu gehen. In Zeiten einer Wechselstimmung allerdings ist die Strategie, dem Wähler zu sagen „Sorge mit deiner Stimme dafür, dass alles so bleibt wie es ist“ kein positiver Anreiz. Und die Motivation „Stimme für den Status Quo, damit Schlimmeres verhindert wird“ reicht halt auch nicht. Was letztlich meine These ist.

  3. Vielleicht sollte ich noch kurz ergänzen: mir geht es hier um einen Aspekt, und um genau den, den ich beschrieb. Dinge sind – natürlich – niemals monokausal, und ich möchte diese Gedanken hier nicht als „DER Grund“ verstanden wissen sondern als einen – durchaus gewichtigen – unter einigen anderen Aspekten. Ich könnte (und vielleicht tu ich das irgendwann auch noch, wenn ich die Zeit dazu finde) über andere Aspekte ähnlich lange Artikel schreiben. Z.B. über Sprache und Kampagne. Ein interessanter anderer Aspekt z.B. ist eben die Sprache und die An-Sprache. Ich verweise hierzu mal auf diese sehr interessante Diskussion im Deutschlandradio: http://breitband.deutschlandradiokultur.de/politische-kommunikation-und-sprache-der-rechtspopulisten/ – und ich finde es grade auch sehr interessant, diesen dort diskutierten Aspekt mal aus der Perspektive anzuhören, den ich hier beschrieben habe. Speziell die zweite Hälfte ist super interessant aus „meiner“ Perspektive…

  4. Danke.

    Ich würde vielleicht noch für die Wahlen unserer (Ur-)Großelterngeneration anführen wollen, dass der 1. Weltkrieg gerade mal gefühlte fünf Minuten hinter ihnen lag, verloren wurde, die Nation traumatisiert und im Würgegriff der Sieger war und die Selbstachtung nicht mehr vorhanden. Hinzukam, dass man in absoluter Obrigkeitshörigkeit und zu bedingungslosem Gehorsam gegenüber Behörden und Amtspersonen erzogen worden war und Dinge nicht laut in Frage stellte. Begnadete Rhetoriker wie Goebbels haben aus diesen Bedingungen Kapital schlagen können.

    1. Stimmt. Und deshalb bin ich auch weit optimistischer in unserer heutigen Zeit, denn die Voraussetzungen sind weit besser als damals.

      Vorausgesetzt, die progressiveren Kräfte hierzulande kapieren rechtzeitig, auf welches Wählerpotential sie zur Abwechslung mal hören sollten.

  5. In einer auf Individualisierung getrimmten Gesellschaft kann man Mehrheiten nur noch mit »Glaube« erzielen…ich glaube an apple oder google (beim smartphone) oder eben an beide. Bei google glaube ich auch noch die Suchergebnisse. Der Rest geht über den Preis. Wahrheiten will keiner hören. Das eigene Gewissen beruhigen wollen alle. Das wiederum geht nur mit Glaube (an Bio, an Wolle oder – und schon beginnt der Krieg – an veganes Kunstleder, etc. pp.). Yes we can. Wir schaffen das. Das WIR ist das Problem. Der Kackehaufen ist nicht groß genug für ein WIR. Dafür müsste mal jemand sämtliche kleinen Kackehaufen zusammenschieben. Aber wer will diesen Job denn machen? Und wer würde jemanden wählen, der das in sein Wahlprogramm schreibt? Denn DAFÜR zu stimmen wäre ja einfach. Es muss aber auch GEMACHT werden! Dafür muss man aber den Gestank aushalten. Der moderne Mensch hält ungern etwas aus. Klick. Weg.

    1. Ich kann diesen Eindruck absolut verstehen, aber er ist mir zu apodiktisch, wenn nicht gar zynisch. Resignieren hilft nicht. Nenn mich unverbesserlichen Optimisten, aber ich glaube, dass es möglich ist, eine Vision, ein positives Ziel zu formulieren und dazu aufzurufen „Lasst uns dort hin gehen!“

  6. Ja, aber es wird eine Lüge sein! Deshalb formulierst Du ja diesen Aufruf auch nicht, bist eben kein Politiker. Oder?

    Es sind doch hier die selben Menschen, die dagegen und gleichzeitig dafür sind, dass eine große Menge »stur « einer großen Sache folgt. Stabilität durch Kräftegleichgewicht. Es sind nur zu viele individuelle Kräfte im Rennen.

    Die Klugen zweifeln, die Dummen vertrauen. Das war schon immer so und wird sich auch nicht ändern.

    Warum fordern die Grünen jetzt mit Nachdruck Autos von der Autoindustrie?…Elektro-Autos, aber eben Autos. — Lasst uns dorthin GEHEN hat also schon ein Grundsatzproblem. Man müsste nämlich laufen. Leider ist das unpopulär. Und schwups sind wir wieder beim Populismus.

    Es ist keine Resignation, das laut zu sagen. Aber zu glauben, es gäbe Rettung durch Visionen, ist eben auch nur Glaube. Des einen Wahrheit ist des anderen Lüge.

    Jeder muss individuell an seine eigenen Grenzen gehen. Weniger essen, weniger Energie verbrauchen, mehr laufen, letztlich mehr erleben. Und sich (und damit andere) Bildung aneignen. Keine leichte Aufgabe für jeden von uns.

  7. Vielleicht kenne ich eine solche Perspektive. Sie hat was mit sozialer Absicherung zu tun, mit Würde für alle Menschen, mit dem Wegnehmen von Angst und dem Mut, Dinge auszuprobieren. Es ist eine nicht-rassistische, nicht-linke, nicht-rechte Perspektive, die sogar schon einen gewissen Bekanntheitsgrad hat: das bedingungslose Grundeinkommen! Wenn man heute Wahlen nur noch mit „macht die alten Säcke fertig“ gewinnen kann – nun, dann wäre vielleicht so was wie ein paar mutierte Piraten erforderlich, die mit markigen Sprüchen gegen Establishment und Großkapitalismus und kleinen Zahlenzaubereien, denen alle noch folgen können, mal mehr aus dem BGE machen als eine immer nur diskutierte Perspektive – nämlich eine geforderte Perspektive, eine, die demokratisch wählbar ist.

    1. Über kurz oder lang, und das wissen „die“ letztlich sogar, weil es irgendwann einfach nicht mehr anders gehen wird, wird ein Konzept wie ein BGE (von dem es ja auch einige unterschiedliche Konzepte gibt) kommen, davon bin ich absolut überzeugt. Es traut sich nur noch keiner, das als konkretes Ziel ins Programm zu schreiben. Und, funfact: würde eine CDU das in ihr Programm schreiben, ich würde sofort CDU wählen. Und die hab ich noch nie gewählt.

      Was mich ein klein wenig optimistisch stimmt ist, DASS es diese Konzepte, bis ins Detail ausgearbeitet, ja schon gibt. Ein großer Unterschied zu den 30gern, z.B.. Das heißt, wenn die Not so groß ist, dass man nicht mehr anders kann, liegen die Konzepte fertig in der Schublade und müssen nur noch rausgeholt werden. Die einzige Befürchtung, die ich habe, ist, dass man ZU lange wartet und versucht, den Status Quo irgendwie auf Teufel komm raus zu halten. Und das dafür sorgt, dass am Ende die eine Mehrheit haben werden, deren Lösung eine andere ist – eine, die ganz explizit nicht das Wohl _aller_ Menschen als Prämisse setzt …

  8. Sven, Danke für den Text. Ich bin für die selben Werte, die Du auflistest. Der Kuschelkurs der Politik gegenüber den Unternehmen, das Ausschweigen der wirklich harten Probleme, die auf uns zukommen (Klima und damit einhergehend Migrantenströme wogegen die heutigen sich kuschelig ausmachen, Renten, die zunehmende Automatisierung von Tätigkeiten, die früher nur Menschen machen konnten), das alles ödet mich an. Ich brauche eine Alternative die wieder den Menschen in die Mitte nimmt und weniger die Prozesse und Konstrukte die wir erschaffen haben.

  9. 100 Prozent Zustimmung. Dieser Artikel ist die beste Analyse über unsere derzeitige politischen Krise, die ich bisher gehört habe (zusammen mit der letzten Folge vom Alternativlos-Podcast). Frank Rieger stellt dort interessanterweise eine These auf, die der deinen (scheinbar) entgegensteht, nämlich, dass die Leute, die Trump gewählt haben, einfach nur „das System brennen“ sehen wollen, also gegen etwas gestimmt haben, nämlich das Establishment (und dass sie dieses Draufhauen aufs System als eine Form von Selbstwirksamkeit erleben). Aber ich denke, dass beide Punkte zutreffen.

    1. Ja, Destruktivität aus Frust ist sicherlich ebenfalls ein Faktor (wie gesagt: nichts ist monokausal). Und Destruktivität ist auch ein Aspekt, das mir meine These, dass es tatsächlich derzeit eine Wechselstimmung gibt, bestätigt. Auch beim Brexit gab es das schon, als Leute hinterher sagten „Aber ich wollte Westminster doch nur eins auswischen, ich dachte doch nie, dass der Brexit wirklich gewinnt!“

  10. Ich kann mich den meisten Aussagen anschließen, die die Vergangenheit betreffen nur mit der Jetztzeitbewertung habe ich ein Problem. Wir können uns noch so sehr anstrengen alle Menschen in die politische Diskussion einzubeziehen und mitzunehmen. Wenn die großen Zeitungen dann einen Einzellfall oder auch eine kleine Gruppe als Opfer dieser Gesellschaft hochschreiben, haben die da Oben immer die schlechtesten Karten. Der Sozialstaat ist für alle Menschen in Deutschland da und mildert viele persönliche Probleme, aber der Grundsatz muss immer noch sein, wer Hilfe braucht bekommt sie, aber erst, wenn alle eigenen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Vielleicht an dieser Stelle ein Beispiel: Die Pflegeversicherung ist keine Erbenschutzversicherung, aber wer keine ausreichende Rente oder Vermögen hat muss halt von meinen Kindern durch die Einzahlungen ins System mit unterhalten werden. Die Diskussion wird aber leider immer so geführt, als wenn das Geld vom Himmel fällt und nicht von irgendjemanden erwirtschaftet und eingezahlt werden muss.

  11. Lieber Sven, vielen Dank für deinen Text. Ich freue mich, dass ich mit meinem Verständnis der politischen Situation nicht alleine bin und dass du dir die Mühe machst, es so auf den Punkt zu formulieren. Ein „weiter so“und den Status quo aufrecht erhalten hat keine Zukunft mehr. Danke.

  12. Vielen Dank für die ausführliche Betrachtung! Ich glaube auch, dass die Menschen in dem immer komplizierter werdenden Alltag Orientierung suchen. Vor diesem Hintergrund habe ich den Auftritt von Angela Merkel am vergangenen Wochenende als Katastrophe empfunden. O.k., sie ist ehrlich: Wir kennen das von ihr, sie arbeitet die Probleme ab, wie sie ihr vor die Füße fallen – ganz routiniert. Aber es fehlt jede Vision. Da sie sich angewöhnt hat, alles zu Brei zu reden und in diffuse Zuversicht zu verklausulieren, fehlt natürlich die Nennung von Problemen: Infrastruktur, Ungleichheit, Bildungsqualität, Wandel in der Arbeitswelt, Integration. Der Gipfel ist aus meiner Sicht folgende Passage: “Schauen Sie, ich tue mich unheimlich schwer mit dieser Unterscheidung der Bevölkerung, wo wir das gleiche und geheime Wahlrecht haben in Deutschland, wo ein Teil für sich in Anspruch nimmt “Ich bin das Volk” und der andere Teil, ich weiß gar nicht, wer das definiert, ist dann die Elite. Ich bin 1989, als die Mauer aufging, mit Freude dazu gekommen, jetzt auch Teil eines Volkes zu sein, das seine Meinung sagen kann, das zur Wahl gehen kann, und ich überhöhe meinen Stimmenanteil nicht, ich habe eine Stimme unter allen Wahlberechtigten und ich bin mit Mehrheiten gewählt worden, die mir politische Gestaltung ermöglicht haben. Und deshalb finde ich, jeder kann sich einbringen. Aber dass nur die, die “nein” sagen und die kritisieren, jetzt plötzlich das Volk sind und alle anderen, die jeden Tag zur Arbeit gehen und Probleme lösen und sich versuchen einzubringen und nicht ganz so viel kritisieren oder kritisieren und Lösungen anbieten, dass die plötzlich nicht mehr das Volk sind und dass irgendwo dazwischen die Elite beginnt, das finde ich, will ich für mich nicht annehmen. (…) Ich bin genauso das Volk, wie andere das Volk sind.” Sie zieht sich den Schuh einfach nicht an! Das Wort „Modernisierungsverlierer“ solle in der Vorlage zum Parteitag wieder raus gefallen sein, sagt sie. Dann bin ich mal gespannt, was stattdessen da steht.

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