Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben

In der Mediathek der ARD ist derzeit noch die Doku „Kulenkampffs Schuhe zu sehen. Ich hoffe, dass, wenn die irgendwann „depubliziert“ wird, dass ich die auf Youtube finde, dann werde ich den Link aktualisieren. (edit 29.9.: mal sehen, wie lange dieser Link tut)

Das Fernsehen der 60ger ist zwar einen Ticken früher als meine Kindheitserinnerungen (ich bin ja Jahrgang 1968, entsprechend beginnen meine eigenen TV-Erinnerungen Anfang der 70ger), aber sie haben schon stark auch in die 70ger reingestrahlt – Kuhlenkampf war schon „älter“, aber EWG lief – wie ich grade selbst zu meiner eigenen Überraschung recherchierte – bis tief in die 80ger, wie auch Rosenthal und all die anderen, die in den 60gern begannen meist bis in die 80ger „durchhielten“ und zum Teil sogar auch in den 90gern noch regelmäßig im Fernseher auftauchten. Entsprechend bin ich eher Generation Rosenthal, Fuchsberger und Carrell als Kuli und Valente.

Die Anfänge dessen, in dessen etabliertes Ergebnis ich dann bereits direkt reingewachsen bin, ist hier nachdenklich und unter dem Eindruck einer traumatisierten Generation  (meiner Großeltern – meine Eltern sind jung genug, um das Schlimmste der deutschen Vergangenheit nicht bewusst miterlebt haben zu müssen, auch wenn mein Vater, ’44 geboren, als Baby auf abenteuerlichen Wegen aus Ostpreußen flüchten (oder besser: geflüchtet werden) musste (ich schrob darüber, was das für meine eigenen Prägungen bedeutete, hier) aufgearbeitet.

Wenn heute vor allem 20-30-Jährige verstehen wollen, auf welcher gesellschaftlichen und psychologischen Grundlage das Phänomen des „alten weißen Mannes“, das man heute beobachten kann, aufbaut, sollten sie diese Reportage anschauen, die ohne dieses aktuelle Phänomen direkt zu thematisieren, das mit, wie ich finde, fast liebevollen Nachvollziehbarkeit (ohne etwas zu entschuldigen) zeigt – gerade die „leichte Muse“ der Unterhaltung, die in jener Zeit ständig im Widerspruch mit der immer noch schmerzlich aktuellen Vergangenheit der Menschen steht, die deshalb natürlich auch ständig in diese hineinstrahlt und zeigt, wie die Menschen mit ihren Gefühlen zwischen den Stühlen sitzen, nämlich ihrer Vergangenheit und dem, was sie als Kinder und Jugendliche gelernt und verinnerlicht haben und der Realität, die ihnen jede Minute ihres restlichen Lebens dagt(e) „Es war alles falsch, deine Eltern, Lehrer, Bezugspersonen haben euch belogen und zu Monstern gemacht!“

Und manche der in diesem Umfeld aufgewachsenen heutigen „alten weißen Männer“ haben diesen Zwiespalt übernommen und bis heute nicht aufgelöst bekommen. Und sitzen deshalb gleichzeitig als „liebenswerte Onkels“ bei ihren Familien, aber wüten gleichzeitig heute in den Feuilletons und auf den Stammtischen herum, unfähig zu Reflexion und unfähig, sich mit ihren eigenen Vergangenheiten zu versöhnen, weshalb sie sich auch nie mit anderen versöhnen können werden. Und bei manchen Vergangenheiten kann ich das sogar gut nachvollziehen, denn wenn es nichts gibt, das verziehen werden kann, braucht man Ignoranz als Fertigkeit um überleben oder auch nur sich ertragen zu können. Dass mangelnde Empathie sich selbst gegeüber natürlich auch dazu führt, dass auch die Empathie gegenüber der Außenwelt in Mitleidenschaft gezogen wird, ist dabei eine leider unvermeidbare Konsequenz.

„Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben!“

12 Gedanken zu „Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben

  1. Lieber Sven, habe ich auch gesehen. Fand ich großartig. Allein das mit den alten weißen Männern kann ich nicht nachvollziehen. Davon war ja ganz Europa voll. Viele davon sind unter entsetzlichen Umständen gestorben in Krieg, Gefangenschaft und in den Tötungsfabriken. Das speziell nochmals deutsche Problem dabei, dazu kannst Du auch Margarete und Alexander Mitscherlichs „Die Unfähigkeit zu trauern“ aus den 60er Jahren lesen. Überhaupt hat ja vieles hier und heute mehr Verbindung dahin als in die 20er Jahre.

    Interessant wäre noch der Blick nach drüben gewesen. Aber der Blick in den eigenen Stall ist schon schlimm genug.

    1. Ich weiß, die Assoziation (die ich halt sofort hatte und nicht mehr los wurde, weil ich mich mit diesen Kriegs/Nachkriegstraumata tatsächlich etwas befasst hatte und die Reportage da einiges davon antriggerte) ist nicht sofort nachvollziehbar. Die meisten der heutigen „alten weißen Männer“ sind ja Nachkriegsgeneration, nicht mehr Kriegsgeneration, und ja, die gibts auch außerhalb von DE – aber ich meine tatsächlich die deutschen alten weißen Männer, bei denen ich eben – auch (oder zusätzlich?) – diesen Aspekt sehe, Stichwort „Traumavererbung“. Und ich meine ja genau diese von dir angesprochene Verbindung, ich weiß grad nicht genau, wie du auf die 20ger kommst, denn ich habe mich nirgends auf anderes als Nachkriegszeit bezogen?

      1. (und vielleicht zum Hintergrund des Postings: ich hatte das ursprünglich auf Facebook runtergetippt, das sind relativ unsortierte Gedanken, eben weil ich da quasi in Echtzeit beim Gucken meine Assoziationen „verarbeitet“ hatte 😀 )

        1. Die 20er hast du nicht erwähnt. Aber die tauchen gerne im Zusammenhang auf. Ich kann halt mit dem Konzept Akte weiße Männer nix anfangen. Da fühle ich mich diskriminiert.

          1. Drum nenne ich es ja „Phänomen“, weil es eben eins ist. Und er beschreibt damit ein bestimmtes Stereotyp, da muss sich niemand (der nicht diesem Stereotyp direkt entspricht) persönlich „gemeint“ fühlen, so ähnlich, wie wenn man in der Beschreibung patriarchaler Strukturen und systemischer Mechanismen von „Männern“ und „Frauen“ spricht. Auch da hab ich kein Problem damit wenn rollenstereotypes Verhalten in der Konversation vereinfacht so beschrieben wird, dass „Männer“ das und das tun und gelernt haben etc. – genau genommen ist das Phänomen „alter weißer Mann“ eine Untergruppe der – ebenfalls systemischen und eben auch so gemeinten – toxischen Maskulinität, die vom Feminismus beschrieben wird. Ich käme auch da nie auf die Idee, konkret mich dortauf der persönlichen Ebene gemeint zu sehen. Es ist einfach einfacher, dem Phänomen einen Begriff zu geben, ihn einmal zu definieren und dann den Begriff einzusetzen anstatt ihn jedesmal erst einmal in 10 Absätzen erklären zu müssen, um den Kontext zu setzen 😉

    2. Vielleicht hilft ja das, um Licht hinter diese Begrifflichen zu bekommen. Einmal, warum „weiß“ in der Bezeichnung vorhanden ist, ein großartiges Interview mit Robin DiAngelo, die erklärt, warum es bei Fragen nach rassistischen Verhaltensmustern nicht zwingend nur um tatsächliche „überzeugte“ Rassisten geht sondern um alle Mitglieder einer Gesellschaft, die rassistische Muster tradiert und internalisiert: „Die meisten sehen nur expliziten Rassismus“.

      Und hier ein kürzeres und deshalb ein bisschen vergröberndes Meinungsstück eines sich selbst als „alter weißer Mann“ bezeichnende Mannes, der diesen Begriff ähnlich versteht wie ich: als Aneinanderreihung von Merkmalen, die Aussagen, wo der so bezeichnende innerhalb der Gesellchaftsstrukturen angesiedelt ist: „alt“ als Beschreibung des erlebten und damit prägenden gesellschaftlichen Mindsets, „weiß“ im Sinne des „race“-Begriffes DiAngelos, und „Mann“, das zusätzlich zum „race“-Aspekt den Gender-Aspekt mit einbringt, dessen gesellschaftlichen Prägungen und Internalisierungen in Bezug auf Privilegierung und Machtgefälle im Muster sehr denen im Bereich „race“ entsprechen und deshalb zu sehr ähnlichen Verhaltensmustern (speziell die Denial-Reaktion und damit verbundene Abwehrhaltungen und die Privilegienblindheit, die eine große Rolle darin spielt, ob ich als „alter weißer Mann“ anerkennen kann, welche Prägungen ich erfahren habe oder ob ich in einen konkreten „angry old white man“ mutiere) führen.: „Hört auf zu jammern, alte weiße Männer!“.

      Und wenn du in die Kommentare speziell des ersten Artikels reinschaust, siehst du all das, was im Interview beschrieben wurde, bis ins kleinste Detail demonstriert und überraschend unreflektiert bestätigt….

      1. Könnte also auch auf junge gelbe Frauen zutreffen, der Systembegriff? Eben nicht. Menschen an ihren Eigenschaften, nicht an ihrem Tun (ihrer Tätigkeit) oder/und Denken zu benamsen halte ich für absolut gefährlich, hinderlich, bekloppt und selbstzerstörerisch. Egal, ob das einer oder eine oder viele auch so machen.

        Ansonsten stimme ich Sven ja vollkommen zu. Ein außerordentlich guter Film, der wieder nach vorne geholt hat, welche Verwerfungen a) in dem Unterhaltungsfernsehen vorlagen und wie die quasi b) gleichalte Generation Deutscher Soldaten getickt hat und c) wie wir als deren Kinder damit in d) direkter oder e) vermittelter Form daran partizipierten und mitwuchsen in f) Übernahme oder g) Abwehr oder in h) beidem. Verstörender Film und damit sehr gut. Keine einfachen Pauschalisierungen zulassend. Individuelle Schicksale in der Gruppendynamik. Sehr guter Film.

        1. Ja, auch Frauen (wenn auch selten, weil sie seltener maskulinen Stereotypen folgen als Männer) könnten das theoretisch. Und auch mit dem tatsächlichen Alter einer Person hat das nichts zu tun, sondern mit dem „Alter“ der internalisierten und dann in Verhalten und Haltung umgesetzten Normen und Muster. Statt „alt“ könntest du auch „unreflektiert nach traditionell patriarchalem Normenmustern und Privilegien denkend und handelnd“ sagen, das machts aber wieder zu lang und lässt den gesellschaftlich nicht minder tradierten Rassismus unter den Tisch fallen, der gehört da nämlich auch dazu

          1. Das mit dem Rassismus ist zweischneidig. Denn mit der langen Definition ist der wenig gut zu bestimmen. Für das Phänomen selbst hatte man meines Erachtens längst auch den Terminus der „Gerontokratie“ ganz ähnlich bestimmt.
            Wie gesagt. Manchmal führen Abkürzungen zu Verkürzungen. In einer Zeit, wo man von jeder politischen Seite aus sehr zu Verkürzungen neigt, gewinnt man dadurch nichts, sondern radebrecht die Komplexität zu Stichworten, die, wenn sie dann die Falschen treffen, diese kollateral mittreffen. Das akzeptiere ich nicht. Rassismus erklärt genauso wenig, weil der der Begriff ebenson inflationär aus jeder Ecke eingesetzt wird. Er ist ggf. das Ergebnis einer falschen Lebensform, aber er ist das Ergebnis, nicht der Aktor. (Das kann ich wohl so sagen, weil ich das auch schon mal in meine Richtung geworfen gehört und gelesen habe. Begründungen dafür absurd, fadenscheinig und damit existenten Rassismus aus dem Blick verlierend. Ehrlich gesagt, macht mich das komplett müde und führt letztlich dazu, dass ich derlei nicht mehr ernstnehmen kann.) Auf die Spitze: Jemanden wie Mugabe als „alten weißen Mann“ dann – nach dieser Auffasssung und Defintion wäre er ja einer – zu bezeichnen, wäre komplett absurd. Tiefer mag ich da jetzt nicht schürfen wollen.

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