Vom Problem, „systemische“ von „individuellen“ Ebenen zu trennen

Offenbar hat mich eine Diskussion auf Facebook gestern über die Nacht so beschäftigt, dass ich heute früh tatsächlich mit einem Gedanken aufgewacht bin, mit dem ich Leuten, die reflexhaft auf Beschreibungen von Auswirkungen, die die patriarchal geprägten Normen und Muster in unserer Gesellschaft nunmal zeitigen und durch zig empirische Daten eindeutig belegbar sind, mit Unterstellungen, man verbreite „Männerhass“ oder überhaupt seien ja wohl „nicht alle Männer so“, reagieren – oder sie nehmen es gleich als persönlichen Angriff, weil sie sich selbst als männlich identifizieren und sich deshalb als Person direkt „gemeint“ fühlen – den Denkfehler erklären kann, in den sie da getappt sind.

Grob gesagt ist das ja schlicht eine „Verwechslung“ von Ebenen, denn freilich geht es bei einem Satz wie z.B. „Männer sind in dieser Gesellschaft nach wie vor privilegiert, Frauen werden noch immer benachteiligt“ um eine Feststellung eines grundsätzlichen Zustands auf systemischer Ebene, der nicht für jede Person auf einer individuellen, persönlichen Ebene zutreffen muss, um „wahr“, sprich, empirisch belegbar zu sein.

Oft reicht aber dieser Hinweis nicht, habe ich leider feststellen müssen – „Dann sag halt nicht ‚Männer‘, wenn du nicht alle Männer meinst!“ und ähnliches kommt dann gern. Was mir sagt, dass mein Gegenüber sich noch immer „mitgemeint“ fühlt, als konkrete Person.

Vielleicht hilft aber tatsächlich die kleine Analogie, die mir heute früh in den Kopf schoss. Also:

Meine Behauptung lautet:

„Wörter, die Negatives aussagen oder negative Gegenteile von Positivem bedeuten, beginnen signifikat oft mit U. Das heißt, dass es kein Zufall ist, wenn ein Wort, das etwas Negatives/Negativiertes bedeutet, ein U am Wortanfang hat.“

Ich begründe meine These damit, dass es die Vorsilbe „un-“ ist, also ein „systemischer“ Faktor innerhalb der Sprache, der dafür sorgt, dass signifikant viele Wörter negativer oder negativierter Bedeutung mit „U“ beginnen und das somit kein Zufall ist.

Das heißt eben aber nicht, dass im Umkehrschluss zulässig ist, zu sagen, „Alle Wörter, die mit „U“ beginnen haben negative/negativierte Bedeutungen“. Behauptet aber auch niemand.

Es heißt auch nicht, dass alle Wörter, die negative/negativierte Bedeutung haben, mit „U“ beginnen. Behauptet aber ebenfalls niemand.

Das heißt, das Wort „Unterhose“ widerlegt meine These genausowenig wie das Wort „schlecht“. Für die beobachtete und empirisch nachweisbare Systematik innerhalb des Konstrukts „Sprache“ sind diese Wörter nicht relevant, denn sie sind nicht Teil der beobachteten Systematik, die ja dennoch weiter existiert. Der Umstand, dass es das Wort „unschön“ gibt, aber nicht „unschlecht“ dagegen spricht für meine These, dass es tatsächlich um eine Negativierung und nicht nur um Bedeutungsumkehr geht.

So ist das dann eben auch in der Frage der Auswirkungen einer patriarchal geprägten Gesellschaft, in der Männer gegenüber Frauen an vielen Stellen (noch) Privilegien gegenüber Frauen genießen. Auf einer systemischen Ebene. Weder der eine Mann, dessen Anspruch auf Beförderung seit Jahren ignoriert wird noch die Frau, die in den Vorstand eines Großunternehmens eingesetzt wurde, ändern etwas daran.

Was etwas daran ändert ist, die existierende und nachweisbare systemische Ungleichverteilung von Macht und Möglichkeiten zu erkennen und – ebenfalls auf einer strukturellen Ebene – abzubauen. Z.B. durch Quoten, die die ungleichen Chancen solange zumindest ein wenig abfangen, solange es ohne nicht funktioniert.

In unserer Analogie entspräche die Abschaffung patriarchaler Strukturen und ihrer Auswirkungen in der Gesellschaft der Abschaffung der Vorsilbe „un-“ als negativierende Funktion in der Sprache (und ja, das ist ein rein hypothetischer Ansatz zur Erläuterung eines Sachverhaltes, niemand hat etwas gegen diese Vorsilbe, drum will die in Wirklichkeit natürlich niemand abschaffen – ich erschrecke aber darob, dass ich das hier tatsächlich sicherheitshalber dazu schreibe)

Wird es danach auf individueller Ebene keine Ungerechtigkeiten und Machtstrukturen mehr geben, die auf Faktoren fußen, die solche Strukturen nicht rechtfertigen? Doch, denn Ungerechtigkeiten und Machtgefälle gibt es viele, und viele Ursachen für solche (Herkunft, Hautfarbe, Religion, sozialer Status, der Faktoren sind da immer noch genug). Aber es wird zumindest ein paar weniger geben. Nämlich die, die bislang auf patriarchalen Traditionen basierten. Sprich, das Wort „schlecht“ besteht weiterhin und beschreibt auch weiterhin etwas Negatives. Aber das Wort „unschön“ ist weg.

Heißt das, es wird keine Männer (und Frauen und was es in dem Spektrum der Geschlechter noch so alles gibt) mehr geben? Doch, denn das Verschwinden partriachaler Strukturen hat nichts mit dem Geschlecht von Individuen zu tun sondern mit tradierten und geprägten Machtstrukturen, Normen und Stereotypen. Heißt, es wird immer noch einen Haufen schöne Wörter geben, die mit „U“ beginnen. Das Wort „Unterhose“ bleibt. Das Wort „Ungerechtigkeit“ verschwindet, nicht der Buchstabe „U“ am Anfang von Wörtern.

Heißt das, du bist gemeint oder gar für dieses strukturelle Problem unserer Gesellschaft persönlich verantwortlich, weil du ein Mann bist? Nein, und niemand behauptet das.

Deine Verantwortung beginnt erst an der Stelle, an der dir deine Privilegien bewusst sind und du sie weiterhin bewusst zum Eigennutz einsetzt oder sie auch nur bewusst ignorierst, sprich, nichts dagegen tust. Was aber eine gänzlich andere Ebene ist und irrelevant im Zusammenhang einer Diskussion eines strukturellen/systemischen Problems.

Es ist sogar ziemlich egal, ob du als Individuum hier überhaupt eine Position einnimmst, denn die Diskussion behandelt ein strukturelles Thema und die Lösungsansätze, um diese strukturellen Probleme zu lösen, liegen ebenfalls auf strukturellen Ebenen. Stichwort Quote, Rechtsansprüche auf Gleichbehandlung, Maßnahmen gegen die Benachteiligung von Müttern (Alleinerziehende, Rentenlücke, usw.) usw. usf..

Da ist eine persönliche Einzelmeinung, wenn sich da wer jetzt als Mann irgendwie „ungerecht beschuldigt“ fühlst, völlig irrelevant, wenn nicht nachgerade lächerlich. und fällt halt oft nur unter „alter weißer Mann“-Gehabe*, also Reflexe von Leuten, deren Haltung so veraltet ist, dass sie für eine aktuelle Diskussion nicht mehr zählen, weil die Diskussion solchen Leuten schon längst davon gelaufen ist und sie die eh nicht mehr einholen werden.

Heißt, nein, nicht Uwe oder Ursula , nicht einmal Undine sind gemeint, wenn wir über die Funktion der Vorsilbe „un-“ in der deutschen Sprache sprechen, die dafür sorgt, dass überdurchschnittlich viele Wörter, die mit „U“ beginnen, negative Bedeutung haben.

Dieser Unterschied zwischen systemischer und individueller Ebene, bzw. dass diese Ebenen oft nicht sauber getrennt bleiben, lässt sich nicht nur in Dikussionen um Geschlechtergerechtigkeit beobachten, insoweit ist auch dieser Punkt ein Beispiel.

Aber wer weiß, vielleicht hilf die Analogie auf ein systemisches Phänomen in der Semantik ja dem ein oder der anderen, die bisher bei der Trennschärfe zwischen diesen Ebenen Probleme hatten. Wenn ja, würde mich das freuen, denn es würde die Diskussion von systemischen Problemen stark erleichtern, wenn alle Beteiligten es ein bisschen besser schafften, auf der systemischen Ebene zu bleiben und sich nicht auf einer persönlichen Ebene von einem Thema, das nichts mit dieser persönlichen Ebene zu tun hat, antriggern zu lassen.

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* da muss ich auch mal was drüber schreiben, auch da gibts ja gern mal Leute, die sich von dieser Redewendung antriggern lassen

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Addendum:

Auf Facebook wurde in der Diskussion um diesen Artikel auf die oben erwähnte „Verantwortung“ eingegangen, indem gefragt wurde, ob der Beginn der Verantwortung mit dem Erkennen der Privilegierung, wie ich oben postulierte, nicht etwas spät angesetzt sei und nicht schon früher begänne. Ich hab dazu folgendes geantwortet:

Eine persönliche Verantwortung liegt für mich im Rahmen dessen, was die Aufklärung beschreibt. Wenn die sagt, dass Aufklärung der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit sei, dann setzt das zumindest die Möglichkeit – im Sinne des Wortes, also die Ermöglichung auch von Seiten der Umwelt – zur Erkenntnis voraus, sprich, die Möglichkeit der Wahrnehmung z.B. eines Zustandes, Umstandes etc.

Im Generellen ist das dann – natürlich – die Verantwortung, sich und seine Umwelt stets zu hinterfragen. Das ist aber dann auch irgendwie ein bisschen ein Allgemeinplatz, ehrlich gesagt, oder?

Im Zusammenhang mit Normen und Prägungen, speziell Internalisierungen, ist aber dennoch auch ein Faktor, ob jemand eine Gelegenheit hatte, eine solche Internalisierung bei sich zu erkennen. Denn das ist ja das Problem bei internalisierten Normen: sie sind nicht als „menschengemacht“ und damit veränderbar zu erkennen, sonst hießen sie ja nicht so.

Insoweit würde ich da bei den Verantwortungen – oder auch Verantwortungs“tiefen“ oder gar „-arten“ – schon noch unterscheiden zwischen „wie gut übernimmt da jemand grundsätzlich Verantwortung für sich und seine Umwelt“ und „wie stark verantwortlich ist jemand konkret dafür, dass etwas in dessen Umwelt nicht in Ordung ist, in das er aber so hineingeprägt wurde, dass diese Normen als internalisiert gelten müssen“.

In der Frage nach gesellschaftlich tradierten Machtgefällen sehe ich selbstverschuldete Unmündigkeit deshalb ab dem Moment, an dem eine Haltung der Ignoranz gegenüber diskriminierenden Strukturen eingenommen wird, und die beginnt ab dem Moment, an dem Menschen wissen, dass es dieses Machtgefälle gibt.

Das ist übrigens schon sehr sehr früh und deshalb gar nicht mal so „erst dann“ wie man vielleicht zunächst glauben möchte…

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