Archiv für den Monat: August 2011

Wir basteln uns einen Aufstand

Betreffend die „frommen“ Wünsche, abgefackelte Autos als Zeichen für eine drohende Jugendrandale nach englischem Vorbild deuten zu wollen: Ja klar, die Medien werden schon irgendwas herbeigeredet, provoziert und eskaliert bekommen. Da gehen Politik und Medien mal wieder Hand in Hand und machen sich die Welt, wie sie sie grade brauchen. Die einen für ihren Wahlkampf, die anderen für ihre Auflage. WinWin

Bei facebook-Parties hat’s ja auch geklappt: die Parties wurden ja auch erst interessant zum wirklich hingehen und gucken, als die Boulevardmedien tagelang drauf aufmerksam machten und eine selffulfilling prohecy provoziert haben – dem normalen facebookuser war bis dahin diese Party völlig schnurz. Aber wenn BILD und SPON zusammen dem Mob sagen, dass er da hin muss kommt er auch brav und randaliert ein bisschen. Und BILD und SPON haben die nächste Schlagzeile frei Haus.

Das ist in Wirklichkeit natürlich nicht so, dass gaanz „plötzlich“ brennende Autos die soziale Schieflage in DE zeigen. IMO brennen mehr Autos (so es wirklich mehr als „sonst“ sind), weil das von den Medien in Schlagzeilen umgesetzt wird.

Wenn die Medien jetzt jeden Tag „Autowrack-Zählung“ veranstalten, damit auch jeder merkt „Hey, das bringt ja was, auch ‚mein‘ Auto wird gezählt und macht eine Schlagzeile!“ werden es jeden Tag mehr. Man macht sich da gerade (mal wieder) die Schlagzeilen selber. Und die Schlagzeilen werden jeden Tag größer. Und die Zahl der „Anschläge“ jeden Tag mehr. Und die Schlagzeilen jeden Tag größer. Und die Zahl der „Anschläge“ jeden Tag mehr. Und die Schlagzeilen… (tbc)

Die soziale Schieflage gibts schon länger, mit üblen Auswirkungen auf die Gesellschaft, freilich – hat sich aber in DE in den letzten Wochen nicht von jetzt auf nachher signifikant so verschlimmert, dass jetzt hier in DE plötzlich mit mehr „Aufstand“ zu rechnen wäre als noch vor einem Monat. Oder gar einem Jahr. Und im Vergleich zu anderen EU-Ländern sind die Verhältnisse noch ganz anders. Was nicht heißt, dass sie gut wären. Sondern nur, dass man an unseren Nachbarn sehen kann, wie schlecht sie sein müssen (und wie schlecht sie werden können und auch hier werden, wenn man nicht rechtzeitig gegensteuert, davon bin ich überzeugt), um eine signifikante Reaktion, von Protest mit definierten und formulierten Zielen und Forderungen bis zu unreflektierter Gewalt als Ausdruck blinder Wut, Frust und Ohnmacht.

Die brennenden Autos sind ein Popanz. Und vor lauter „die zünden Autos an!“ wird gerade das, was Ausbrüche wie in London oder Paris verhindern könnte: das überföllige Angehen der Ursachen wachsender sozialer Spannungen, genau nicht weiter betrachtet. Weils ja grad so schön brennt, da lassen sich viel schönere Bilderstrecken zum Klicks generieren mit basteln.

Und freilich auch die besseren politischen Aktionen als Reaktion drauf umsetzen: kleine Gesetzesverschärfung, ein paar Polizisten einstellen, fertig, es wurde was getan. Gegen die Autozündler.

Gegen das Problem der sozialen Spannungen, die durch immer extremere soziale Unterschiede erzeugt wird, lässt sich nämlich nicht „mal eben schnell“ was tun, selbst wenn jemand das wollte – es ist ja allerdings das Gegenteil der Fall, derzeit wird nach wie vor die Umverteilung von unten nach oben immer weiter getrieben und verstärkt.

Weshalb auch kein Politiker, der schnell Schlagzeilen braucht (es ist Wahlkampf) sich damit die Finger verbrennen will. Und deshalb auch schön die Finger davon lässt. Er muss ja auch nix machen – die Medien liefern ja eine prima oberflächliche Alternative zum Thema….

Win Win
 

London

Aus den Kommentaren zweier Google+ – Diskussionen (hier und hier) (u.a. gings auch um die Aussage „Ich habe kein Verständnis für Leute, die solcherlei Gewalt ausüben“) kopier ich das mal hier hin, kann man als Blogpost direkt stehen lassen.

Zur Einführung ein Zitat aus dem Blogposting „Panic on the Streets of London“ von „Penny Red“

[…]In one NBC report, a young man in Tottenham was asked if rioting really achieved anything:

„Yes,“ said the young man. „You wouldn’t be talking to me now if we didn’t riot, would you?“

„Two months ago we marched to Scotland Yard, more than 2,000 of us, all blacks, and it was peaceful and calm and you know what? Not a word in the press. Last night a bit of rioting and looting and look around you.“

Eavesdropping from among the onlookers, I looked around. A dozen TV crews and newspaper reporters interviewing the young men everywhere „˜“

There are communities all over the country that nobody paid attention to unless there had recently been a riot or a murdered child. Well, they’re paying attention now.

Tonight in London, social order and the rule of law have broken down entirely. The city has been brought to a standstill; it is not safe to go out onto the streets, and where I am in Holloway, the violence is coming closer. As I write, the looting and arson attacks have spread to at least fifty different areas across the UK, including dozens in London, and communities are now turning on each other, with the Guardian reporting on rival gangs forming battle lines. It has become clear to the disenfranchised young people of Britain, who feel that they have no stake in society and nothing to lose, that they can do what they like tonight, and the police are utterly unable to stop them. That is what riots are all about.

Riots are about power, and they are about catharsis. They are not about poor parenting, or youth services being cut, or any of the other snap explanations that media pundits have been trotting out: structural inequalities, as a friend of mine remarked today, are not solved by a few pool tables. People riot because it makes them feel powerful, even if only for a night. People riot because they have spent their whole lives being told that they are good for nothing, and they realise that together they can do anything – literally, anything at all. People to whom respect has never been shown riot because they feel they have little reason to show respect themselves, and it spreads like fire on a warm summer night. And now people have lost their homes, and the country is tearing itself apart. […]“

Ich war Ende März in England und an dem Wochenende in London, als dort hunderttausende friedlich gegen die sozialen Kürzungen, die zur Rettung der Milliardäre beschlossen wurden, protestierten (die paar kleine Rangeleien am Rande zählen da nicht, bei der riesigen Anzahl Menschen) – am nächsten Tag wurde noch von den Zeitungen berichtet. Am übernächsten schon war es nie passiert. In Deutschland wurde es als Randnotiz in der 20Uhr-Tagesschau erwähnt. Der Rest der Welt dürfte es schlicht verpasst haben.

Das Argument“ des Mannes im Video stimmt auf eine fatale Art und Weise. Und genau das ist der Skandal.

Die Aufforderung, „friedlich“ zu protestieren erscheint in der Tat nurmehr als „…damit wir es ignorieren können“. Die hunderttausenden im März hatten keinerlei Auswirkung über den einen Tag hinaus. Das ist das Problem. Und wenn sich das nicht ändert werden wir bald mehr solche jungen Männer vor Kameras stehen sehen, die in Gewalt die einzige Möglichkeit sehen, sich wenigstens einmal in ihrem chancenlosen Leben „Gehör“ zu verschaffen. Nicht nur in London.

Aber das wird auch hier zu Lande keiner kapieren. Auch hier wird man glauben, dass das Hinsehen hinter die Kulissen, das Anerkennen, dass auch man selbst „Ursache“ ist, weil man Menschen von der Teilhabe am Gemeinwesen, an Bildung und an Chancen abgeschnitten hat, ein Zeichen von „Schwäche“ sei, die man „solchen Leuten“ gegenüber nicht zeigen dürfe. „Die sollen sich halt mal am Riemen reißen“. Und „sich einen gescheiten Job suchen“. Anstatt „auf Kosten der Allgemeinheit…“ – ach, halt, das ist ja, was wir hier bei uns unseren „Hartzies“ sagen. Falsche Baustelle…. Die sind ja nur dumm, ungebildet, Verbrecher gar, Dealer, Kleinkriminelle, Drogensüchtige, Alkoholiker, Asoziale. Alle miteinander.

Jedenfalls: Warum sie das sind, in einem westlichen Land, das selbst in einer Krise noch reicher als der größte Teil der Rest-Erde ist? Diese Frage wird nicht angegangen.

Blöd, denn die gesellschaftlichen Verlierer und Chancenlosen haben sich diese Frage inzwischen längst beantwortet. Und solange niemand hingeht und eine alternative Antwort gibt, weil man „kein Verständnis hat für die“, vor allem keine, die ihnen eine Perspektive gibt, die ihnen sagt „Doch, auch ihr seid Teil der Gesellschaft und deshalb wichtig und es wert , dass man sich auch um eure Sorgen und Not kümmert, gilt: wer schweigt oder verweigert stimmt zu und bestätigt deren Antwort: „Ihr wollt uns am Boden!“

Dummerweise reagieren ohnmächtige Leute, die nichts mehr zu verlieren zu haben glauben und auch nicht mehr dran glauben, dass sie auch nur irgendwas zu gewinnen hätten, meist auf zwei mögliche Arten: völlige Resignation und Selbstaufgabe – oder aber blinde, auch selbstzerstörerische, Wut.

„Verständnis“ zu haben entschuldigt niemanden, etwas zu verstehen heißt nicht automatisch, etwas gut zu heißen. Aber Verständnis ist die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt zu überlegen beginnen kann, was man ändern kann, damit sowas am besten schon nicht eskaliert. Oder wenigstens in Zukunft nicht mehr passiert. Wer Verständnis verweigert, verweigert die Möglichkeit, etwas zu ändern. Wer nicht versteht kann nicht rational handeln. Wer nicht versteht, obwohl er es könnte, handelt darüber hinaus unverantwortlich.

Nachtrag: Eine Reihe Links zum Thema

http://www.spreeblick.com/2011/08/11/tipps/
http://www.taz.de/Strassenschlachten-in-Grossbritannien/!76052/
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1525244/

http://www.guardian.co.uk/uk/series/london-riots-live
http://www.guardian.co.uk/uk/2011/jul/29/young-people-gangs-youth-clubs-close
http://www.guardian.co.uk/society/joepublic/2011/aug/09/tottenham-young-people-riot-future
http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/aug/10/riots-reflect-society-run-greed-looting

Schon älter:

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1119768/

 


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Die Pseudonymfrage ist nach wie vor offen. Aber da letztlich nichts davon besser wird, dass man schweigend zusieht unterstütze ich nach wie vor auch Pseudonymaccounts auf Google+ und hoffe, dass diese Einladung vor allem Leute nutzen, die auch nichts gegen Pseudonyme haben. Insoweit ist diese Einladung auch so zu verstehen: dass ich genau solche Leute damit einlade.

Das heißt nicht, dass jeder ein Pseudonym nutzen muss wenn er nicht mag (ich machs ja auch nicht – aber warum sollte ich anderen was verbieten, nur, weil ichs selbst anders mache/machen kann? Eben!) – aber kann und darf wenn er will oder muss. Und wer trotz untenstehender Links nicht verstehen mag, warum die Möglichkeit für Pseudonyme, Autonyme und auch Anonyme wichtig und richtig sind: holt euch woanders eine Einladung, ich lade euch explizit nicht ein…

Und verweise bei dem Thema auch auf das englische „My name is me“ sowie das von Jens eröffnete tumblr-Blog „Fuck Yeah Pseudonyms“, wo es ähnliche Statements auch auf deutsch gibt. Und jeder seine hinzufügen kann.